Sehr erfreulich, dass die 50.000 Stimmen geknackt wurden. Ich hoffe, es geht mehr als nur die vielbeschriebene Signalwirkung davon aus. Da Du so explizit nach der allgemeinen Meinung fragst, werde ich mich mal dazu äußern, auch wenn ich das aufgrund eines gewissen Zeitmangels nicht in dem Maße tun kann, in dem ich es gerne würde. Ich würde Dir auch voll und ganz in dem zustimmen, was Du geschrieben hast, abgesehen davon, dass die Stellenverlagerung ins Ausland meines Erachtens sehr real ist, auch wenn diese von Stellenstreichungen begleitet ist, und zwar in einem schritweisen Prozess immer weiter nach Osten: Erst in die "neuen Bundesländer", dann nach Tschechien und Polen, bald in die Ukraine.
Hinzufügen würde ich noch, dass Arbeit in unserer Kultur seit biblischen Zeiten, man denke an den Garten Eden, Arbeit als Strafe und als Folge menschlicher Sündhaftigkeit gilt. Die Befreiung von der Arbeit, die immer als Mühsal betrachtet wird, gilt dementsprechend als Ziel aller Mühen. Damit hängen natürlich auch bestimmte andere Forderungen zusammen, wie die nach Leistung und Nutzen, die leicht darin münden können, alle Menschen, die keine Leistung bringen und keinen Nutzen erwirtschaften als überflüssig zu betrachten, was ein gängiges Motiv war und imer noch ist. Dass Lob der Arbeit ist in unserer Zivilisation so fest verankert, dass sich selbst Marx und Engels nicht davon befreien konnten, die dafür auch gerne auf rassistische Stereotypen wie den "faulen Mexikaner" zurückgriffen, wenn sie die USA ausdrücklich dafür lobten, diesen unzivilisierten Menschen durch die Annektierung ehemals mexikanischer Gebiete die Zivilisation zu bringen oder die Faulheit der Massen verdammten und in diesem Zusammenhang den Begriff des "Lumpenproletariats" prägten, dessen primäres Merkmal sie in der Verweigerung der Arbeit erblickten. Dabei denke ich, dass die ambivalente Haltung, die Arbeit zugleich zu verdammen und zu vergöttern, diejenigen, die arbeiten müssen, um zu leben, gering, diejenigen, die nicht arbeiten müssen, um zu leben hoch zu schätzen, aus dem Umstand herrührt, dass geistige und körperliche, Kopf- und Handarbeit, "bluecollar-" und "whitecollarworker" seit der Antike in einer strikten Trennung nebeneinander existieren. Dieser Unterteilung gemäß gibt es also die denkenden und lenkenden und die nur ausführenden und dienenden Menschen. Arbeit im strengen Sinne reduziert sich hier auf letzteres, während ersteres selten als Arbeit im eigentlichen Sinne betrachtet wird. Übrigens wurde diese Trennung auch von Marx und Engels adaptiert, insofern ihre Forderung, die Massen bräuchten verantwortliche Führer, die sie lenken, diesen unüberwindbaren Hiatus widerspiegelt. Dagegen ist die Abschaffung der Arbeit in meinen Augen nichts, was sich der weit überwiegende Teil der Bevölkerung wünscht, auch wenn dieser Mythos gerne aufrechterhalten wird; die Abschaffung übermäßiger, unsinniger, unkreativer und abstumpfender Arbeit dagegen schon.
Natürlich wird es immer unschöne Aufgaben geben, die erledigt werden müssen, aber gegenwärtig sind diese Arbeiten auch noch die am schlechtesten bezahlten. Die gemütlichen Plauderstündchen in der Chefetage dagegen, haben wenig mit Arbeit zu tun, aber viel mit Kohlemachen. Bei einer nicht auf Bedrohung der physischen Existenz der Massen beruhenden Wirtschaftsordung müsste es also wenigstens zu einer weitgehenden Egalisierung der Löhne und Gehälter kommen, wenn nicht zur Umkehrung der heutigen Situation, in der die Drecksjobs schlecht und die schönen Berufe gut bezahlt werden. Es ist wohl klar, dass eine solche Angleichung der Lebensumstände von einem bestimmten Teil der Bevölkerung nicht gewünscht werden kann. Darum erzählt dieser Teil auch gerne das sozialkonservative Märchen herum, nach dem die Menschen in einer ständigen Existenzangst gehalten werden müssen, damit sie überhaupt arbeiten. Dabei ist es doch eher so, dass diese drohende Kulisse aufrechterhalten werden muss, um Drecksarbeit zu niedrigsten Löhnen anbieten und die höchsten Löhne den besten Jobs vorbehalten zu können. Dabei entsteht auch automatisch die "industrielle Reservearmee", mit deren Hilfe man alle unnützen Kosten weiter senken kann, um den eigenen Lebenstandard auf Kosten anderer zu erhöhen.
Die sich seit mehreren Jahrzehnten in Vorbereitung befindliche sogenannte "dritte industrielle Revolution" ist bereits dabei, das Leben der Menschen in einem Ausmaß umzugestalten, das dem der ersten und zweiten gleichkommt. Ebenso wie die Maschinisierung (Dampfmaschine Watts) der ersten industriellen Revolution Berufe und ebenso wie die Automatisierung (Fließbänder Fords) der zweiten industriellen Revolution Menschen im Werksprozess "überflüssig" gemacht hat, ist die dritte industrielle Revolution dabei, diesen Prozess fortzuführen. Kurz gesagt, existiert seit Jahrzehnten kein Produktions-, sondern ein Verteilungsproblem. Das hatte auch schon Herbert Marcuse vor über vierzig Jahren erkannt ... und damals brauchte man zur Herstellung eines VW-Käfers eine halbe Kompanie Arbeiter und etwa einen Produktionstag, heute wird die Herstellung eines VW-Golfs mit einer Handvoll Arbeiter in der Hälfte der Zeit erledigt und auf die technischen Unterschiede zwischen einem Käfer von 1960 und einem Golf von 2009 brauche ich wohl nicht einzugehen.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Reformierung oder Revolutionierung der Wirtschaftsordnung habe ich eben angedeutet und es ist klar, dass die besitzende Klasse das nicht wollen kann, aber ich denke es gibt auch politische Konsequenzen, die nicht besonders erwünscht sein können, nämlich die wirklich tiefgreifende und dauerhafte Beteiligung aller Bürger die dies wünschen an der Politik. Nach einem Acht-Stundentag, der mit An- und Abreise zur Arbeitsstelle häufig eher ein Zehn-, mit unbezahlten Überstunden und anderen Späßen manchmal ein Zwöf-Stundentag werden kann, haben die wenigsten Leute noch den Willen und die Kraft sich tätig in die Entscheidungen unserer gewählten Führer einzumischen. Mehr Freizeit bedeutet auch mehr Zeit sich in politische Belange einzumischen und mehr Mitbestimmung zu fordern. Ist das wirklich gewünscht? Und wirkt eine ausgeweitete Mitbestimmung in der Politik nicht auch auf die Wirtschaft zurück?